3. Projektive Identifizierung und Introjektion: Ergänzungen zur Projektion

3. Projektive Identifizierung und Introjektion: Ergänzungen zur Projektion

Als Ergänzung zum Vorgang der Projektion gibt es in der Psychotherapie zwei weitere Begriffe, die eng damit zusammenhängen: projektive Identifizierung und Introjektion.
Beide helfen, das Gesamtbild besser zu verstehen.

Begriff 1: Projektive Identifizierung

Projektive Identifizierung klingt kompliziert, ist aber leicht zu verstehen.

Was ist projektive Identifizierung?

Eine projektive Identifizierung bedeutet, dass ich etwas auf mein Gegenüber projiziere – und diese Person beginnt, genau das in sich selbst zu erleben oder zu verkörpern.
Ich sende also unbewusst etwas hinaus, und der andere greift es innerlich auf und reagiert entsprechend.

Die schwierige Unterscheidung

Das macht die Unterscheidung zwischen „Was ist meins?“ und „Was ist deins?“ schwierig.
Ein Teil dessen, was ich bei anderen wahrnehme, stammt tatsächlich aus mir selbst – nur erkenne ich es nicht.
So entstehen Missverständnisse und emotionale Verwicklungen.

Wie diese Re-Kreation geschieht

Diese Reaktion im Gegenüber kann auf zwei Arten passieren.

Variante 1: Das Gleiche entsteht

Ich kreiere im anderen das Gleiche, was ich in mir habe.
Beispiel: Ich empfinde Angst, nehme sie aber nicht wahr. Stattdessen glaube ich, die Situation sei gefährlich – und mein Gegenüber fängt an, sich ebenfalls ängstlich zu fühlen.
So entsteht ein gemeinsamer Angstraum.

Variante 2: Das Gegenteil entsteht

Ich kann aber auch das Gegenteil im anderen auslösen.
Wenn ich etwa projiziere: „Du bist gefährlich“, kann mein Gegenüber aggressiv oder abwehrend reagieren.
Ich erzeuge unbewusst genau die Dynamik, die meine Projektion bestätigt.

Das Wut-Beispiel

Besonders deutlich zeigt sich das bei Wut.
Wenn ich wütend bin, es aber nicht merke, strahle ich diese Spannung unbewusst aus. Andere reagieren darauf – und werden selbst wütend.
Manchmal entsteht dadurch eine ganze Welle im Raum oder in Gruppen: eine Person bringt unbewusst die Wut ein, und alle werden ärgerlich.

Das Gegenteil kann auch passieren: Ich projiziere meine Wut, und mein Gegenüber bekommt Angst.
Diese Form der projektiven Identifizierung ist typisch für manche Persönlichkeitsstrukturen, bei denen Wut eingesetzt wird, um Kontrolle oder Sicherheit herzustellen.
„Ich projiziere so viel Wut, dass um mich herum Angst entsteht.“
Das System versucht so, Kontrolle wiederzugewinnen.

Zusammenfassung

Projektive Identifizierung ist im Grunde eine besonders wirksame Projektion – so wirksam, dass andere beginnen, sie in sich zu erleben.
Ich projiziere etwas, und mein Umfeld reagiert, indem es das Gefühl oder die Haltung in sich selbst erzeugt.

Wo kommt das besonders vor?

Zwei Gruppen zeigen das besonders deutlich:

1. Babys

Babys kommunizieren über projektive Identifizierung.
Sie projizieren ihre inneren Zustände auf die Eltern – und feinfühlige Eltern spüren diese Emotionen in sich.
So funktioniert emotionale Resonanz in der frühen Kindheit.

2. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen

Auch bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen taucht dieses Muster stark auf.
Durch unbewusste Projektionen können Betroffene ganze Gruppen oder Beziehungen beeinflussen.
Sie „übertragen“ unbewusst ihre inneren Zustände, bis das Gegenüber sie spürt.

Begriff 2: Introjektion

Der zweite Begriff, der zur Projektion gehört, ist Introjektion.

Was ist Introjektion?

Introjektion beschreibt den Prozess, durch den wir Glaubenssätze, Emotionen und Haltungen aus unserer Umgebung aufnehmen, besonders in frühen Lebensphasen.
Wir übernehmen sie, bevor wir unterscheiden können, was „meins“ und was „deins“ ist.

Wann findet Introjektion statt?

Introjektion entsteht vor allem in der Zeit, in der ein Kind noch keine klaren Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt hat.
In dieser Phase gelangen Emotionen, Spannungen und Überzeugungen anderer wie durch Osmose in das eigene System.
Sie werden zu einem Teil des Selbst, ohne je bewusst geprüft worden zu sein.

Was kann introjiziert werden?

Introjektionen betreffen fast alles:

  • Gefühle: Wenn in meiner Familie alle traurig oder angespannt sind, übernehme ich dieses Grundgefühl.
  • Spannungsmuster: Ich bewege mich wie meine Eltern, halte meinen Körper wie sie.
  • Kulturelle Annahmen: Ich übernehme, was in meiner Umgebung „normal“ ist, ohne es zu hinterfragen.
  • Verhaltensweisen: Ich lerne automatisch, wie man reagiert, streitet oder Nähe zeigt – lange bevor ich entscheiden kann, ob das gesund ist.

Merksatz

Viele Dinge, die wir später projizieren, sind zuvor introjiziert worden.
Was ich einmal aufgenommen habe, sehe ich später in der Welt.

Besondere Form: Täterintrojekte

In extremen Situationen – etwa bei Missbrauch oder starkem Trauma – kann es zu sogenannten Täterintrojekten kommen.
Das geschieht, wenn Grenzen vollständig zusammenbrechen und Gefühle des Täters in das Opfer übergehen.
So können Wut, Scham oder Selbstverachtung des Täters als eigene Gefühle erlebt werden.
Das macht die Verarbeitung solcher Erfahrungen so schwer, weil das Opfer nicht nur mit seinen eigenen Emotionen, sondern auch mit fremden, übernommenen Gefühlen ringt.

Zusammenfassung: Die drei Begriffe

1. Projektion

Ich übertrage mein unbewusstes Material auf die Außenwelt.

2. Projektive Identifizierung

Mein Gegenüber beginnt, dieses Material in sich zu erleben oder zu verkörpern.

3. Introjektion

Ich habe dieses Material irgendwann aufgenommen – als Kind, als Reaktion, als Teil meiner Umgebung.

Diese drei Prozesse gehören zusammen:
Was introjiziert wurde, wird später projiziert. Und was projiziert wird, kann beim anderen wieder reaktiviert werden.
So entsteht der Kreislauf, in dem sich menschliche Beziehungen und therapeutische Prozesse ständig bewegen.