4. Was ist Übertragung? Und wie unterscheidet sie sich von Projektion?

Der zweite große Bereich zwischenmenschlicher Dynamiken ist die Übertragung.
Übertragung und Projektion hängen eng zusammen, sind aber nicht dasselbe. In diesem Artikel geht es darum, was Übertragungen sind – und wie sie sich von Projektionen unterscheiden.
Was ist Übertragung?
Übertragung bedeutet, dass wir alte innere Beziehungsbilder und Verhaltensmuster auf neue Menschen übertragen.
In der Psychoanalyse spricht man hier von Objektbeziehungen – also den inneren Bildern, die wir von wichtigen Bezugspersonen entwickelt haben.
Das Grundprinzip
Wir alle tragen innere Modelle davon, wie Beziehungen funktionieren:
Wie wir Nähe herstellen, wie wir uns schützen, wie wir Zuneigung bekommen.
Wenn wir jemand Neues treffen, greifen wir oft auf diese alten inneren Modelle zurück – ganz automatisch.
Das sieht dann so aus:
- „Du bist wie mein Vater.“
- „Ich fühle mich bei dir wie damals bei meiner Mutter.“
- „Ich verhalte mich dir gegenüber so, wie ich mich als Kind verhalten habe.“
Das ist Übertragung.
Wir reagieren nicht auf den Menschen vor uns, sondern auf ein altes inneres Abbild – und merken es meist nicht.
Warum wir das tun
Der Mechanismus ist ökonomisch.
Übertragung spart Energie.
Anstatt jedes Mal neu herauszufinden, wer jemand ist und wie wir uns verhalten sollen, greifen wir auf Altbekanntes zurück.
Das Gehirn arbeitet nach dem Prinzip: Wiedererkenne und reagiere wie gewohnt.
Objektbeziehungen – die Grundlage der Übertragung
Wie sie entstehen
Als Kinder kommen wir ohne feste Vorstellungen über uns oder andere zur Welt.
Erst durch wiederholte Erfahrungen mit Bezugspersonen bilden wir innere Abbilder – sogenannte Objekte:
„So ist Mama. So ist Papa. So bin ich.“
Mit diesen Bildern verknüpfen wir Gefühle und typische Reaktionen.
Wir lernen:
„Wenn ich so bin, bekomme ich das.“
„Wenn ich das sage, wird sie wütend.“
„Wenn ich mich zurückziehe, wird es sicherer.“
Diese emotionalen Landkarten werden zu unseren inneren Objektbeziehungen.
Und aus ihnen entstehen unsere Beziehungsstrategien.
Das Selbstobjekt
Mit der Zeit entsteht auch ein inneres Bild von uns selbst – ein sogenanntes Selbstobjekt.
Es beschreibt, wie wir uns in Beziehungen sehen: liebenswert, anstrengend, hilflos, stark.
All das wird früh geprägt und bleibt erstaunlich stabil.
Beispiele für Übertragung
Beispiel 1: In der Partnerschaft
Ein Mann sagt:
„Ich liebe meine Frau, aber sie gibt mir nie, was ich brauche. Ich muss immer darum kämpfen.“
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich:
Das ist die gleiche Dynamik, die er als Kind mit seiner Mutter erlebt hat.
Er bettelt, hofft, fühlt sich übersehen – und wiederholt diese alte Beziehungsform in neuer Verpackung.
Er begegnet seiner Frau also nicht wirklich als erwachsener Mann, sondern als Kind in einer vertrauten Rolle.
Das ist Übertragung.
Beispiel 2: In der therapeutischen Beziehung
Das Gleiche passiert in der Therapie.
Klienten übertragen ihre alten Beziehungsmuster auf den Therapeuten:
- „Du bist der, der mich endlich versteht.“
- „Du wirst mich auch verlassen.“
- „Du weißt es besser als ich.“
Diese Muster laufen meist unbewusst ab.
Und sie bestimmen, wie der Klient sich verhält – offen, misstrauisch, angepasst oder fordernd.
Gegenübertragung
Wo Übertragung geschieht, gibt es meist auch eine Gegenübertragung.
Das bedeutet: Der andere – etwa der Therapeut – reagiert auf das Übertragungsangebot und übernimmt unbewusst die Rolle, die ihm zugeschrieben wird.
Ein energetisches Angebot
Man kann sagen: Jede Übertragung ist ein energetisches Angebot.
Sie lädt das Gegenüber ein, auf eine bestimmte Art zu reagieren – und das oft, ohne dass beide es merken.
Das funktioniert, weil das Angebot vertraut und emotional stark ist.
Es fühlt sich „natürlich“ an, darauf zu reagieren.
Beispiel: Partnerschaft
Wenn jemand sagt:
„Ich bekomme nie, was ich will. Ich muss immer darum betteln.“
– spielt er unbewusst die Rolle des hilflosen Kindes.
Die typische Gegenübertragung der Partnerin könnte sein:
„Dann sag doch endlich, was du willst! Du benimmst dich wie ein Kind!“
Genau damit wiederholt sich die alte Dynamik: Bedürftigkeit trifft auf Gereiztheit.
Beide erleben das Muster als echt – und verwechseln es mit der Realität.
In der Therapie
Auch in der Therapie passiert das ständig.
Ein Klient bringt ein Beziehungsangebot mit – und der Therapeut spürt den Drang, darauf zu reagieren.
Vielleicht mit Ungeduld, übertriebener Fürsorge oder genervter Distanz.
Diese Impulse fühlen sich intuitiv an, sind aber oft Ausdruck einer Gegenübertragung.
Wenn man sie erkennt, kann man sie bewusst unterbrechen – und dadurch etwas Neues ermöglichen.
Warnsignal
Ein typisches Warnsignal für Gegenübertragung:
Ich reagiere emotional intensiver als gewöhnlich.
Ich bin plötzlich genervt, überfürsorglich oder übermäßig betroffen.
Das sind Momente, in denen alte Beziehungsangebote aktiv sind – auf beiden Seiten.
Auch Therapeuten übertragen
Nicht nur Klienten übertragen – auch Therapeuten tun es.
Zum Beispiel, wenn sie glauben:
„Ich muss jedem helfen. Jede Sitzung muss etwas verändern.“
Dieses Muster ist ebenfalls eine Übertragung – ein Versuch, Kontrolle oder Wert zu sichern.
Die Folge: Druck beim Therapeuten, Druck beim Klienten.
Unterschied: Übertragung vs. Projektion
Beide Konzepte ähneln sich, aber sie betreffen unterschiedliche Ebenen.
- Projektion bedeutet: Ich sehe in dir etwas, das in mir ist. Es geht um Wahrnehmung.
Beispiel: Ich spüre Wut, merke es nicht und glaube, du bist wütend. - Übertragung bedeutet: Ich wiederhole mit dir eine alte Beziehungsdynamik. Es geht um Beziehung.
Beispiel: Ich behandle dich wie meine Mutter und verhalte mich entsprechend.
Der entscheidende Unterschied:
Projektion betrifft die Wahrnehmung – Übertragung betrifft die Beziehung.
Zusammenfassung
Übertragung heißt, alte innere Beziehungsmuster auf neue Menschen zu übertragen – inklusive der Emotionen, Erwartungen und typischen Verhaltensweisen.
Gegenübertragung ist die unbewusste Antwort darauf.
Und Projektion ist die zugrunde liegende Wahrnehmungsverzerrung, bei der ich mein Inneres im Außen sehe.
Je bewusster wir diese Dynamiken erkennen, desto eher können wir echte Begegnung ermöglichen – frei von alten Rollen.