1. Das Internal Family Systems Modell: Eine Einführung in die IFS-Therapie

Die Internal Family Systems Therapie (IFS), auf Deutsch auch als System der inneren Familie bekannt, revolutioniert unser Verständnis der menschlichen Psyche. Dieser therapeutische Ansatz, entwickelt von Richard Schwartz, bietet eine neue Perspektive darauf, wie wir unsere innere Welt verstehen und mit ihr arbeiten können.
Was ist IFS?
Das Internal Family Systems Modell ist zweierlei: Einerseits ein bewährter Ansatz für Psychotherapie, Coaching und Beratung. Andererseits eine umfassende Theorie über die Struktur der menschlichen Psyche. Was IFS besonders macht, ist seine nutzerfreundliche und nicht-pathologisierende Herangehensweise an psychische Herausforderungen.

Das Paradigma der Pluralität
Im Zentrum der IFS-Theorie steht eine grundlegende Annahme: Die menschliche Psyche ist natürlicherweise in mehrere Subpersönlichkeiten organisiert, die IFS als "Teile" bezeichnet. Anders als traditionelle psychologische Ansätze geht IFS nicht davon aus, dass wir eine einheitliche, unveränderliche Persönlichkeit haben. Stattdessen verfügen wir über unterschiedliche Teile – und je nachdem, welcher Teil gerade aktiv ist oder mit uns "verschmolzen" ist, verhalten wir uns anders, denken anders und nehmen die Welt anders wahr.
Die Entdeckung durch Richard Schwartz
Die Entstehung von IFS basiert auf bemerkenswerten Beobachtungen in der therapeutischen Praxis. Richard Schwartz, ursprünglich in der Familientherapie tätig, arbeitete mit Menschen, die unter schweren Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten litten. Als er begann, seine Klienten zu fragen, was in ihnen während dieser extremen Verhaltensweisen geschieht, machte er eine erstaunliche Entdeckung.
Eine Klientin berichtete ihm beispielsweise von einem Teil in ihr, der sie dazu brachte, sich selbst zu ritzen – allerdings nicht aus destruktiver Absicht, sondern um sich selbst wieder zu spüren und Linderung zu erfahren. Gleichzeitig beschrieb sie einen anderen Teil, der nach dem Ritzen aktiv wurde und sie heftig kritisierte: "Was hast du wieder gemacht? Hör endlich auf damit!" Diese Kritik verursachte erneut Stress und führte zu einem Teufelskreis.
Schwartz tat etwas Mutiges: Er nahm diese Berichte ernst und folgte, wie er es nennt, "den Beweisen". Indem er mehr über diese Teile lernte, entwickelte er eine Landkarte unserer inneren Welt.

Die Landkarte der Teile
Beschützer und Verbannte
Schwartz entdeckte, dass wir grundsätzlich zwei Kategorien von Teilen haben:
Die Beschützer sind aktive Teile, die versuchen, durch ihr Verhalten bestimmte Dinge zu vermeiden oder herbeizuführen. Sie wollen dafür sorgen, dass andere uns mögen, dass wir sicher sind, dass wir bestimmte Gefühle nicht fühlen müssen. Jeder dieser Beschützer hat eine positive Intention – selbst diejenigen, die extreme Verhaltensweisen nutzen.
Die Verbannten sind Teile, die oft aus der Vergangenheit stammen und unverarbeitete Lasten tragen: Schmerzen, belastende Glaubenssätze, überwältigende Emotionen. Sie hängen in der Vergangenheit fest, und unser inneres System arbeitet hart daran, sie aus dem Bewusstsein fernzuhalten.
Manager und Feuerbekämpfer
Schwartz erkannte zudem, dass Beschützer auf zwei grundlegend verschiedene Arten funktionieren:
Manager arbeiten proaktiv. Sie versuchen, unser Leben zu kontrollieren und uns durch vorausschauendes Handeln vor potenziell schädlichen Situationen zu bewahren. Ein typischer Manager ist der Teil, der ständig To-Do-Listen abarbeitet und denkt: "Ich muss noch mehr leisten, damit ich sicher und anerkannt bin."
Feuerbekämpfer (Feuerwehrmänner) reagieren hingegen reaktiv. Sie werden aktiv, wenn bestimmte Gefühle oder Erinnerungen hochkommen, und sorgen dann mit allen verfügbaren Mitteln dafür, dass wir diese Gefühle nicht fühlen müssen. Das können Strategien sein wie stundenlang fernsehen, exzessives Essen, Drogen, Sex – alles, was uns von unangenehmen inneren Erfahrungen wegbringt.

Die nicht-pathologisierende Perspektive
Was IFS so besonders macht, ist seine grundlegende Haltung: Anstatt Verhaltensweisen als "falsch" oder "pathologisch" zu bewerten, geht der Ansatz davon aus, dass jeder Teil sein Bestes versucht, um das System zu unterstützen. Die Strategien mögen nicht immer hilfreich sein, aber die Absicht dahinter ist positiv.
Im Beispiel der Klientin mit selbstverletzendem Verhalten bedeutet dies: Der Teil, der zum Ritzen führt, versucht tatsächlich zu helfen. Er schützt das System davor, von einem darunter liegenden Verbannten überwältigt zu werden – einem Teil, der vielleicht uralte, überfordernde Emotionen trägt.
Diese Perspektive ermöglicht eine völlig neue Form der Selbstwirksamkeit. Menschen können erkennen: "Ah, das ist ein Teil. Er möchte etwas Positives für mich. Vielleicht gibt es eine andere, hilfreichere Strategie, um den gleichen Effekt zu erzielen."
Das revolutionäre Element: Das Selbst
Das vielleicht revolutionärste Element im IFS-Modell ist die Entdeckung des Selbst. Schwartz beobachtete etwas Erstaunliches: Sobald die verschiedenen Teile in Therapiesitzungen begannen, sich zu entspannen und Raum zu machen, zeigte sich darunter immer etwas Gleichbleibendes.
Patienten, die zuvor unruhig und hypervigilant waren, wurden plötzlich ruhig. Wo sie zuvor ihre Teile loswerden wollten und im Krieg mit ihnen standen, wurden sie plötzlich neugierig diesen Teilen gegenüber. Schwartz beschreibt es so: "Es war fast, als würde unter den Teilen immer wieder die gleiche Persönlichkeit, das gleiche Wesen sichtbar werden."
IFS geht davon aus, dass wir alle ein Selbst haben – einen spirituellen Kern, zu dem wir Kontakt haben können. Wenn wir mit diesem Kern verbunden sind, verfügen wir über bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten, die uns sonst nicht zur Verfügung stehen. Die Präsenz des Selbst wird oft durch Qualitäten wie Neugier, Mitgefühl, Klarheit und Ruhe (die sogenannten '8 Cs' des Selbst) charakterisiert.
Die IFS-Perspektive auf Symptome und Probleme
Zusammengefasst betrachtet IFS psychologische Probleme und Herausforderungen folgendermaßen:
- Symptome werden durch Teile ausgelöst, meist durch Beschützer, die unser Leben organisieren und uns von Verletzungen aus der Vergangenheit fernhalten wollen
- Diese Teile haben immer eine positive Intention
- Sie benutzen oft veraltete Strategien, die in der Vergangenheit einmal sinnvoll waren
- Die Beschützer versuchen zu verhindern, dass vulnerable Teile (die Verbannten) erneut verletzt werden oder das System übernehmen
- Veränderung geschieht nicht durch Bekämpfung dieser Teile, sondern durch Verstehen und von dort aus durch sanfte Transformation
Ein neuer Weg der inneren Arbeit
Das IFS-Modell bietet einen Weg, sich in der eigenen Innenwelt zu orientieren, ohne sich selbst oder Teile von sich zu pathologisieren. Es geht nicht darum, Teile loszuwerden oder zu bekämpfen, sondern sie zu verstehen, ihre positive Absicht zu erkennen und von einem Ort des Selbst aus mit ihnen in Beziehung zu treten.
Diese Grundhaltung – dass wir alle aus verschiedenen Teilen bestehen und dass wir alle ein Selbst haben – bildet die Basis für die therapeutische Arbeit mit IFS. Es ist eine Einladung, unsere innere Welt mit Neugier, Mitgefühl und Verständnis zu erforschen, anstatt sie zu bewerten oder zu bekämpfen.
In dieser neuen Perspektive liegt die Kraft von IFS: Die Anerkennung, dass selbst unsere schwierigsten Verhaltensweisen aus einem Ort der Fürsorge entstehen – aus dem Versuch unserer Teile, uns zu schützen und zu helfen, so gut sie können.
Quellen
- Richard Schwartz: Internal Family Systems Therapy, Second Edition
- Jay Earley: Freedom from Your Inner Critic
- Jay Earley: Self-Therapy A Step-By-Step Guide to Creating Inner Wholeness Using Ifs, a New, Cutting-Edge Therapy
- Wikipedia:Internal Family Systems Model
- APA (Definition): Internal Family Systems Therapy
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Glossar