2. Teile verstehen: Die innere Landschaft erkunden

2. Teile verstehen: Die innere Landschaft erkunden

Im zweiten Teil dieser Einführung in die Internal Family Systems Theorie möchten wir tiefer eintauchen in das Verständnis dessen, was Teile eigentlich sind, wie sie funktionieren und was geschieht, wenn sie aktiviert werden oder mit uns verschmelzen.

Grundthesen: Wir alle haben unterschiedliche Teile

Bevor wir in die Details einsteigen, lohnt es sich, drei fundamentale Annahmen zu betrachten, die sich überraschend einfach nachvollziehen lassen.

Erste These: Wir sind nicht immer die gleichen Menschen

Die einfachste Methode, um zu verstehen, dass wir unterschiedliche Teile haben, besteht darin, uns selbst zu beobachten: Bin ich in allen Situationen der gleiche Mensch?

Ein eindrückliches Beispiel: Der Mensch, der beim Sport hochkonzentriert und wettbewerbsorientiert ist, andere besiegen möchte und voller Kampfgeist steckt, ist ein völlig anderer als derselbe Mensch in einem intimen Moment mit dem Partner oder der Partnerin. Eine Perspektive, dies zu verstehen, ist zu sagen: Unterschiedliche Teile sind aktiv.

Oder nehmen wir alltägliche Entscheidungssituationen. Im Restaurant steht man vor der Speisekarte. Eine Stimme sagt: "Nimm die Suppe, die ist gesund." Eine andere Stimme kontert: "Der Schokopudding! Ich will nur Schokopudding, eine riesige Portion!" Zwei unterschiedliche Teile wollen unterschiedliche Dinge.

Ein drittes Beispiel sind Verhaltensmuster. Wir nehmen uns vor, etwas anders zu machen. Doch wenn wir in bestimmte Situationen kommen, läuft immer wieder der gleiche Automatismus ab. In dem Moment denken wir dann: "Nee, jetzt ist es schon okay. Einmal kann ich das noch machen." Der Teil, der dieses Muster abspielt, ist in diesem Moment aktiv geworden.

Zweite These: Viele unserer Teile sind gesund

Ein wichtiger Punkt, den wir nicht vergessen dürfen: Die meisten unserer Teile sind gesund und funktional. Viele unserer Fähigkeiten, Talente und Dinge, die uns leichtfallen, werden von gesunden Teilen getragen.

Alle komplexen Fähigkeiten, die wir einmal gelernt haben, wurden zu einem großen Teil von Teilen von uns gelernt. Wir haben gesunde Teile, die bestimmte Beziehungsdinge ganz simpel regeln können. Sie haben das einfach gelernt.

Wir nehmen diese gesunden Teile oft nicht so bewusst wahr. Wenn sie da sind, funktioniert das Leben einfach. Deshalb schenken wir ihnen häufig nicht viel Aufmerksamkeit. Aber es ist wichtig zu verstehen: Sie existieren und bilden die Grundlage unseres Funktionierens.

Dritte These: Wir alle haben einige Teile, die in extremen Rollen feststecken

Basierend auf der Annahme, dass wir alle viele gesunde Teile haben, ist es ebenso wichtig zu erkennen: Wir alle haben auch einige Teile, die in extremen Rollen feststecken.

Es sind Teile wie Beschützer, die bestimmte Verhaltensweisen haben, von denen sie glauben, sie immer wieder ausführen zu müssen. Oder Verbannte, die irgendwann in der Zeit steckengeblieben sind.

Um genau diese Teile geht es im IFS-Ansatz. Die zentrale Frage lautet: Wie können wir diese feststeckenden Teile verstehen? Wie können wir mit ihnen arbeiten? Und welche Perspektiven sind für diese extremen, feststeckenden Teile hilfreich?

Was sind Teile eigentlich?

Ein Zitat, das sowohl bei Richard Schwartz als auch bei anderen IFS-Praktikern zu finden ist, lautet: Teile sind ein bisschen wie kleine Menschen in uns.

Das mag im ersten Moment ungewöhnlich klingen – vielleicht sogar nach multipler Persönlichkeitsstörung. Aber es ist eigentlich ganz simpel zu verstehen.

Teile haben ihre eigenen Perspektiven

Unterschiedliche Teile von uns nehmen die gleiche Situation unterschiedlich wahr. Eine große Menschenmenge ist für einen Teil von mir vielleicht "so viele tolle Menschen, mit denen ich schöne Erfahrungen machen kann". Für einen anderen Teil ist dieselbe Situation "oh weh, so viele neue Menschen, die ich nicht kenne". Zwei Teile, gleiche Situation, unterschiedliche Perspektiven.

Teile haben ihre eigenen Motivationen

Jeder Teil verfolgt häufig ein eigenes Ziel. Ein Teil möchte, dass wir schlank aussehen und gesund sind. Ein anderer Teil möchte, dass wir erfolgreich sind – und dem ist es gar nicht so wichtig, wie unser Körper dabei aussieht. Teile haben unterschiedliche Motivationen.

Teile haben ihre eigenen Glaubenssätze

Je nachdem, welche Teile aktiv sind, haben wir andere Gedanken und Überzeugungen über die Welt. Für einen Teil ist die Welt ein großer Spielplatz. Für einen anderen Teil ist die Welt eine riesige Gefahr. Je nachdem, welcher dieser Teile aktiv ist, werden wir anfangen, die Welt entsprechend zu sehen.

Teile haben ihre eigenen Emotionen

Je nachdem, welcher Teil aktiv ist, fühlen wir uns unterschiedlich. Unsere emotionale Verfassung wechselt mit den aktiven Teilen.

Teile haben manchmal ihre eigenen Erinnerungen

Manche Teile haben Erinnerungen, die ein Teil von uns noch hat – besonders bei traumatischen Erinnerungen oder ähnlichen Erlebnissen. Diese wurden vom System wie abgespalten, und ein Teil von uns trägt diese Erinnerung.

Teile haben ihr eigenes Verhalten

Dies führt oft dazu, dass man Teile am Verhalten erkennen kann, weil bestimmte Teile immer wieder ähnliche Strategien und Rollen übernehmen. Ich habe beispielsweise bestimmte Teile, die dafür sorgen, dass ich hart arbeite – meistens gesund, nicht immer. Und ich habe andere Teile, bei denen es nicht um diese Arbeit geht. Die Frage ist einfach: Welcher Teil ist gerade aktiv? Dies wird verändern, wie ich mit der Welt umgehe und wie ich mich verhalte.

Die positive Intention aller Teile

Ein wichtiger Punkt, der nicht vergessen werden darf: Alle Teile, alle Beschützer – egal wie extrem ihre Verhaltensweisen sind – haben immer eine positive Intention. Sie versuchen, etwas Gutes für uns in unserem Leben zu bewirken, auch wenn sie nicht immer die besten Strategien wählen.

Aktiviert versus verschmolzen: Zwei zentrale Begriffe

Basierend auf dieser Perspektive, dass Teile ein bisschen wie kleine Menschen sind, lassen sich zwei wichtige Begriffe im IFS erklären: Teile können aktiviert sein oder mit uns verschmolzen sein.

Aktivierte Teile

Stellen wir uns einen Teil vor – etwa den Teil, der sagt "arbeite hart". In einer Lebenssituation wird dieser Teil aktiviert. Auf einer Ebene kann man sagen: Dieser Teil kommt aus unserem Unterbewusstsein und wird fühlbar, spürbar in uns.

Teile sind häufig in und um unseren Körper organisiert. Wenn Teile gerade aktiv in diesem Raum sind, beeinflussen sie uns. Das ist die Definition von "aktiviert": Ein aktivierter Teil ist ein Teil, der gerade aktiv ist und uns beeinflusst.

Das bedeutet, dass wir anfangen, die Welt ein bisschen so zu sehen, wie dieser Teil sie sieht. Wir beginnen, die Gedanken zu haben, die dieser Teil hat, und so weiter.

Verschmolzene Teile

Es gibt auch Situationen, in denen ein Teil nicht nur aktiviert ist und uns beeinflusst, sondern sogar mit uns verschmilzt. Das bedeutet: In diesem Moment übernimmt der Teil das System.

Der Teil übernimmt den Sitz des Bewusstseins (ein Konzept, das in späteren Videos detaillierter erklärt wird). In diesem Moment ist es so, als ob wir zu diesem Teil werden. Wir fangen dann an, die Welt noch stärker genauso zu sehen wie der Teil, genau die Gedanken zu haben und die Entscheidungen zu treffen, die dieser Teil treffen würde.

Ein Beispiel: Wo vorher der Teil aktiv war, der sagt "arbeiten, arbeiten, arbeiten", übernimmt plötzlich der Teil, der sagt "nee, genug gearbeitet". Das Resultat: "Okay, ich kann mich ja mal hinsetzen und ein bisschen fernsehen." Dieser Teil hat dann übernommen, und der Teil, der den Sitz des Bewusstseins übernimmt, kann letztendlich die Entscheidungen im System treffen.

Zusammengefasst: Teile können aktiviert sein, Teile können mit uns verschmelzen. Teile sind ein bisschen wie kleine Menschen in uns. Und wenn diese Teile übernehmen oder aktiviert sind, werden wir mehr wie diese Teile – wir fangen an, deren Persönlichkeit und Perspektiven zu übernehmen.

Teile sind eindimensional

Eine wichtige Fußnote zur Vorstellung, dass Teile wie kleine Menschen in uns sind: Teile sind ein bisschen wie eindimensionale Menschen in uns.

Als Menschen – du, ich, wir alle – sind wir relativ komplex. Wir haben viele unterschiedliche Eigenschaften. Je nach Situation sehen wir die Welt unterschiedlich. Wir haben unterschiedliche Teile und sind sehr komplexe, multidimensionale Wesen.

Teile hingegen nicht unbedingt. Teile stecken auf verschiedene Arten und Weisen fest:

Teile stecken in der Zeit fest

Teile sind oft sehr eingeschossen auf eine ganz bestimmte Art und Weise, sich zu verhalten – eine Verhaltensweise, die in der Vergangenheit sehr hilfreich war, aber vielleicht heute nicht mehr immer sinnvoll ist. Für diesen Teil ist das aber immer noch die einzige Art und Weise, die Welt zu sehen und sich zu verhalten.

Teile haben eine "Wenn-Dann"-Perspektive

Aus der Kognitionswissenschaft lässt sich dies beschreiben: Wenn ein Teil bestimmte Dinge in der Welt wahrnimmt, dann benutzt er eine bestimmte Strategie, um damit umzugehen. Diese Strategie ist bei Teilen oft sehr eindimensional. Es gibt wenig "mal so, mal so". Sondern oft ein: "Oh, das – dann mache ich das."

Sie benutzen dabei oft alte Strategien. Sie fallen auf Rollen zurück, die sie schon sehr lange einnehmen.

Das ist wichtig im Hinterkopf zu behalten, um zu verstehen, warum Teile immer wieder auch so viele Probleme verursachen können.

Ein hoffnungsvoller Ausblick: Das Selbst liegt direkt unter der Oberfläche

Nachdem wir nun so viel darüber gesprochen haben, was geschieht, wenn ein Teil verschmilzt oder aktiv ist, möchte ich mit einem hoffnungsvollen Gedanken schließen:

Die Entdeckung des Selbst in IFS ist, dass sobald Teile sich entspannen – sprich Raum machen – wir Zugang zum Selbst erhalten.

In der Perspektive des IFS liegt das Selbst immer direkt unter der Oberfläche. Das ist ein sehr schöner Gedanke: Wir müssen nicht weit suchen, nicht Jahre meditieren oder extreme Praktiken durchführen. Sobald unsere Teile bereit sind, einen Schritt zurückzutreten, ist das Selbst bereits da – geduldig wartend, mit all seinen heilenden Qualitäten.

Die Arbeit mit Teilen ist also nicht nur eine Arbeit der Problemlösung, sondern auch eine Arbeit der Entdeckung: die Entdeckung dessen, wer wir jenseits unserer Teile wirklich sind.