4. Verbannte verstehen: Die verletzten Teile unserer Vergangenheit

Im vierten Teil dieser Einführung in die Internal Family Systems Theorie richten wir unseren Blick auf die Verbannten. Wir wollen verstehen: Was sind Verbannte eigentlich? Wie werden Teile in unserem System verbannt? Was sind die Bedürfnisse der Verbannten? Und was bedeutet es, wenn wir von den Lasten oder Emotionen dieser Teile überflutet werden?
Verbannte sind auch wie kleine Menschen
Über die letzten Videos haben wir die Perspektive entwickelt, dass Teile und Beschützer ein bisschen wie kleine Menschen sind – mit ihren eigenen Perspektiven, Motivationen und so weiter. Dies trifft auch auf Verbannte zu.

Verbannte sind ebenfalls ein bisschen wie kleine Menschen. Das heißt, diese Anteile haben auch:
Ihre eigene Perspektive auf die Welt
Sie sehen die Welt aus ihrer eigenen, oft in der Vergangenheit verhafteten Sicht.
Ihre eigene Motivation
Was bei Verbannten häufig vor allen Dingen ist: gesehen werden wollen. Dies ist ein zentrales Bedürfnis der Verbannten.
Ihre eigenen Glaubenssätze
Dies können oft aus der Vergangenheit stammende Glaubenssätze sein, die auch Teil der Last sind – der aus der Vergangenheit kommenden unverarbeiteten Ereignisse, die die Verbannten noch tragen.
Ihre eigenen Emotionen
Diese sind auch oft Teil der Last. Das kann Trauer sein, Scham, aber auch Rage und Wut – alles Emotionen, die wir irgendwann nicht verarbeiten konnten und die deswegen oft vom System verbannt wurden.
Manchmal sogar eigene Erinnerungen
Verbannte können Erinnerungen tragen und halten, die wir als bewusste erwachsene Menschen gar nicht kennen, die aber diese Teile immer noch mit sich tragen – und in denen sie sogar feststecken können.
Das heißt: Auch Verbannte sind wie kleine Menschen in uns, und am besten geht man in der Therapie auch genau so mit ihnen um.
Zwei besondere Eigenschaften der Verbannten
In diesem Zusammenhang gibt es zwei weitere Details, die bei den Verbannten ein wenig anders sind als bei den Beschützern.

1. Verbannte stecken häufig in der Zeit fest
Während Beschützer noch immer in der Welt agieren – Manager, die versuchen unser Leben zu managen, oder Feuerbekämpfer, die versuchen Emotionen zu löschen, die aufkommen – sind Verbannte oft abgespalten vom Rest des Systems und stecken eigentlich wie in einer Erinnerung oder Situation fest.
Man kann sich das wie einen Rahmen vorstellen, der sie von der aktuellen Realität trennt. Das heißt auch, dass sie häufig immer noch die Perspektive haben, dass das, was damals geschehen ist, eigentlich jetzt gerade geschieht. Denn das ist alles, was diese Teile kennen – sie wurden von allem anderen ausgeschlossen.
2. Verbannte sind verletzlich und leicht aktivierbar
Verbannte sind als Anteile verletzlich – im Sinne von verletzt – und dadurch auch leicht aktivierbar oder, im Neudeutschen, "triggerbar". Denn sie tragen noch immer den nicht verdauten Schmerz aus der Vergangenheit.
Die Last, die Verbannte tragen
Die Last der Verbannten kann verschiedene Formen annehmen:
Glaubenssätze
Wir haben Dinge erlebt, die wir nicht anders verstehen konnten als durch eine Perspektive wie:
- "Es muss alles meine Schuld sein"
- "Ich bin schlecht"
Das ist quasi das, was dieser Teil über sich glaubt.
Emotionen
Gefühle wie Wut, Hass, aber auch Trauer und Scham, die so überwältigend waren, dass wir sie nicht verarbeiten konnten.
Aktivierungszustände des Nervensystems
Ganze Aktivierungszustände, bei denen unser Nervensystem bei kleinen Triggern immer wieder in die gleichen Reaktionen kommt. Diese sind in den Verbannten noch immer wie damals vorhanden und wurden nicht verdaut.
Ein Beispiel: Vom gesunden Teil zum Verbannten
Um das vielleicht deutlicher zu machen, stellen wir uns folgendes Szenario vor:
Phase 1: Der gesunde Teil
Ein Kind wächst auf und hat als Kind einen ganz gesunden Teil – in diesem Beispiel ein ganz gesundes Bedürfnis nach Liebe. Einen Teil, der Liebe braucht und der versucht, Liebe zu bekommen. Liebe in Form von:
- Nähe mit den Eltern
- Berührung und Wärme (ganz körperlich)
- Emotionale Zuwendung und Offenheit
Phase 2: Die Verletzung
Jetzt stellen wir uns vor: Dieses Kind hat diesen gesunden Teil, und das Bedürfnis dieses Teils, alle Versuche des Teils, diese Liebe zu bekommen, werden konstant nicht erfüllt oder sogar beschämt.
Das heißt, wann immer dieser Teil versucht, Liebe zu kriegen, kriegt er sie entweder nicht, oder es wird sogar auf diesen Teil herabgeschaut und gesagt: "Das ist Schwäche. Das brauchst du gar nicht."
Phase 3: Der nicht verdaute Schmerz
Das heißt dann, dass der Teil dauerhaft nicht bekommt, was er braucht – oder sogar verletzt wird. Und das bedeutet leider auch, dass das für den Teil schmerzhaft ist. Diese Erfahrung, nicht zu kriegen, was man braucht, ist schmerzhaft.
Und dieser Schmerz, wenn er nicht verarbeitet werden kann, bleibt wie immer und immer wieder stecken.
Phase 4: Der Glaubenssatz entsteht
Was dazu führt, dass der Teil, der sich eigentlich nach Liebe sehnt, anfängt, sich nicht liebenswert zu fühlen.
Denn was ist die andere Erklärung dafür? Dieser Teil, dieser Mensch bekommt immer wieder nicht das, was er braucht. Die einzige logische Erklärung dafür muss sein: "Ich verdiene das gar nicht."
Dieser Teil fängt an, sich als nicht liebenswert zu fühlen. Das ist sowohl ein Gefühl als auch ein Glaubenssatz, der sich entwickelt.
Phase 5: Das Verbannen
Damit zieht der Teil sich zurück. Denn: "Wenn ich nicht liebenswert bin, dann brauche ich gar nicht erst zu probieren."
Und weil dieses Gefühl, nicht liebenswert zu sein, zu viel ist, wird der Teil auch immer wieder und immer mehr vom Bewusstsein abgeschnitten. Das ist dann genau das, was die Beschützer machen: Sie sorgen quasi dafür, dass dieses Gefühl nicht immer und immer wieder aktiviert wird und hochkommt.
Die Organisation um Verbannte herum
Das ist auch das, was wir im letzten Video schon besprochen haben – die Perspektive, dass unser System und unsere Beschützer um die Verbannten organisiert sind.

Das heißt: An dem Ort, wo wir uns nicht liebenswert fühlen, dort beginnen die Beschützer, Strategien zu entwickeln, damit wir nicht andauernd immer wieder dieses Gefühl haben: "Ich bin nicht liebenswert."
Denn es ist viel besser – zumindest aus einer Perspektive – zu sagen:
- "Wenn ich hart arbeite und alles tue, was Menschen von mir wollen, dann bin ich vielleicht okay. Ich bin dann vielleicht immer noch nicht liebenswert, aber die Leute akzeptieren mich. Und das ist besser, als immer wieder zurückgewiesen zu werden."
Eine andere Perspektive kann auch sein:
- "Es ist besser, nichts zu fühlen, als immer wieder diesen Schmerz, nicht liebenswert zu sein, zu fühlen."
Die Beschützer versuchen also Strategien zu finden, um mit dem verletzten Teil – mit dem Teil, der immer noch diese Last trägt – umzugehen. Sie schauen: Wie können wir möglichst wenig von diesem überfordernden Ereignis immer wieder erleben?
Das tiefe Bedürfnis: Gesehen werden
Weil Beschützer damit meistens relativ erfolgreich sind, führt das dazu, dass Verbannte oft ein ganz tiefes Bedürfnis haben, nämlich: das Bedürfnis, gesehen zu werden.
Diese Teile leiden oft und sind dabei aber vom Bewusstsein abgeschnitten. Weshalb sie darin nicht gesehen, geliebt oder wertgeschätzt werden. Sondern oft sagen die Beschützer: "Oh, weg damit, weg damit, weg damit!" – was keine schöne Situation ist.
Der verzweifelte Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen
Das heißt, diese Verbannten haben das Bedürfnis, gesehen zu werden. Und die einzige Strategie, wie sie gesehen werden können, ist häufig, dass sie wie ins System einbrechen.
Dann aber sind sie oft so überflutet, dass sie das gesamte System überfluten – mit den Gefühlen, Glaubenssätzen und so weiter.
Der Teufelskreislauf
Das führt dann aber leider wieder zu einem Zyklus:
Wenn die Beschützer die Erfahrung machen: "Oh Gott, wann immer der Teil übernimmt, dann ist das sowieso viel zu viel", dann werden sie versuchen, noch härter zu arbeiten, damit das nicht geschieht – damit dieser Verbannte nicht wieder das System überflutet.
Und so führt es dazu, dass der Verbannte noch verzweifelter wird, noch mehr das Bedürfnis hat: "Ich möchte gesehen werden! Ich möchte gesehen werden!"
Und dass die Beschützer aber auf der anderen Seite genauso noch stärker in ihren Strategien werden. Das ist ein Teufelskreislauf.
Die therapeutische Perspektive
Hier ist die therapeutische Perspektive entscheidend: Die Beschützer können dann anfangen, sich anders zu verhalten – und damit oft ganz viele Probleme im Leben gar nicht mehr auftauchen lassen – wenn die Verbannten weniger Last tragen und weniger verletzlich sind.
Das heißt aber auch aus einer therapeutischen oder Coaching-Perspektive, dass wir häufig mit diesen tieferen verbannten Teilen arbeiten müssen. Und die Beschützer müssen damit einverstanden sein – denn sonst haben wir auch da schon wieder das gleiche Problem.
Das ist einfach nur als ein Ausblick auf die Perspektive, wie das IFS dann auch mit diesen Verbannten und mit den Beschützern später therapeutisch oder im Coaching, in der Beratung arbeitet.
Eine wichtige Unterscheidung: Verbannte ≠ ihre Last
Auch hier zum Abschluss ist es mir wichtig, noch einmal klarzustellen: Verbannte sind nicht gleichzusetzen mit ihrer Last.
Das heißt: Verbannte sind nicht dieser Schmerz. Sie tragen den Schmerz oder die Last von damals dort noch immer, aber sie sind nicht der Schmerz selbst.
Verbannte tragen wichtige Qualitäten
Verbannte sind auch oft Teile von ganz wichtigen Qualitäten, die wir eigentlich brauchen.
Ganz häufig sind die Teile in uns, die besonders verletzt werden, die, mit denen wir versucht haben, ganz natürlich in der Welt umzugehen – wo wir aber nicht die Antwort und nicht die Möglichkeiten bekommen haben, von dort aus zu leben. Sondern wo wir eben Verletzungen erfahren haben.
Das heißt: Die Verbannten tragen eigentlich ganz wichtige Bedürfnisse und Qualitäten, die wir auch als Erwachsene immer noch bräuchten, um ein gutes Leben führen zu können.
Unter der Last liegt das Geschenk
Das Ganze ist aber so überdeckt von Last und Schmerz aus der Vergangenheit, dass es ganz schwierig ist, daran zu kommen.
Aber es ist wichtig, im Kopf zu behalten: Verbannte sind nicht die Last. Unter der Last liegen oft wertvolle, gesunde Teile mit wichtigen Bedürfnissen und Fähigkeiten, die nur darauf warten, befreit zu werden.
Zusammenfassung
Verbannte sind Teile, die in der Zeit feststecken und unverarbeitete Lasten aus der Vergangenheit tragen – Glaubenssätze, Emotionen und Aktivierungszustände. Sie haben das tiefe Bedürfnis, gesehen und verstanden zu werden.
Sie entstehen oft aus gesunden Teilen, die verletzt wurden, weil ihre Bedürfnisse nicht erfüllt oder beschämt wurden. Um sie herum organisiert sich dann ein Schutzsystem aus Beschützern.
Quellen
- Richard Schwartz: Internal Family Systems Therapy, Second Edition
- Jay Earley: Freedom from Your Inner Critic
- Jay Earley: Self-Therapy A Step-By-Step Guide to Creating Inner Wholeness Using Ifs, a New, Cutting-Edge Therapy
- Wikipedia:Internal Family Systems Model
- APA (Definition): Internal Family Systems Therapy
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