5. Lasten & Trauma im IFS: Was Teile aus der Vergangenheit tragen

Im fünften Teil dieser Einführung in die Internal Family Systems Theorie beleuchten wir ein zentrales Konzept: die Lasten. Wir wollen verstehen: Was sind Lasten? Wie kommen Lasten in unser System? Und wie können wir Lasten wieder loswerden?
Das Konzept der Last im IFS
In den letzten Videos haben wir die Perspektive entwickelt, dass wir alle unterschiedliche Teile haben, die unterschiedliche Dinge tun. Diese Teile – die Beschützer – versuchen uns vor bestimmten Dingen zu schützen. Und sie tun das, weil es auch Teile in uns gibt – die Verbannten – die unverarbeitete Dinge aus der Vergangenheit mit sich tragen.
Diese unverarbeiteten Dinge aus der Vergangenheit werden im IFS Lasten genannt.
Man kann sich das vorstellen wie einen Rucksack voller schwerer Dinge, den diese Teile mit sich herumtragen. Diese Dinge sind eben die Lasten, die sie mit sich tragen – und die sie oft schon sehr, sehr lange tragen.
Zwei Arten von Lasten
Es gibt zwei Hauptarten von Lasten, die wir unterscheiden können:
- Glaubenssätze
- Emotionen (und somatische Aktivierung)
Hier ist es wichtig zu betonen: Ich stelle das jetzt getrennt voneinander dar, aber natürlich hängen diese beiden immer zusammen. Wenn wir einen Glaubenssatz haben wie "Ich bin nicht liebenswert", dann wird das natürlich auch mit Emotionen wie Trauer oder Scham einhergehen.
Aber um es ein bisschen greifbarer zu machen, möchte ich es trotzdem zunächst getrennt betrachten.
Glaubenssätze als Lasten
Was sind Glaubenssätze?
Glaubenssätze sind vor allen Dingen Überzeugungen, die wir über uns selbst haben, über andere Menschen oder über die Welt.
Diese Überzeugungen sind oft in der Vergangenheit entstanden und haben uns damals geholfen, die Welt zu verstehen und mit ihr umzugehen.
Glaubenssätze hatten eine Funktion
Das heißt, diese Glaubenssätze sind nicht einfach nur so entstanden, sondern sie haben eine Funktion erfüllt. Und das ist auch ganz wichtig zu verstehen, um mit diesen Glaubenssätzen zu arbeiten.
Denn wenn wir einfach nur sagen "der Glaubenssatz ist falsch", dann wird sich der Teil nicht verändern. Der Teil hat den Glaubenssatz nicht einfach so angenommen, sondern weil er ihm in der Vergangenheit geholfen hat, die Situation zu verstehen, zu überleben oder damit umzugehen.
Typische Glaubenssätze
Typische Glaubenssätze, die Teile als Last tragen können, sind:
- "Ich bin nicht gut genug"
- "Ich bin nicht liebenswert"
- "Ich bin anders" (im Sinne von: falsch, nicht zugehörig)
- "Ich bin nicht sicher"
- "Ich bin nicht wichtig"
All das sind Glaubenssätze, die wir über uns selbst haben können.
Die Auswirkungen von Glaubenssätzen
Diese Glaubenssätze beeinflussen dann:
- Die Art und Weise, wie wir mit der Welt umgehen
- Sie können dazu führen, dass wir uns immer wieder in ähnlichen Situationen wiederfinden
- Sie können dazu führen, dass wir uns in bestimmten Situationen nicht so verhalten, wie wir es eigentlich gerne möchten
Das heißt: Diese Glaubenssätze sind Überzeugungen, die wir über uns selbst, andere oder die Welt haben. Sie haben uns in der Vergangenheit geholfen, und wir tragen sie deswegen immer noch mit uns herum – auch wenn sie uns heute nicht mehr so hilfreich sind.
Emotionen als Lasten
Emotionen sind nicht grundsätzlich schlecht
Auch hier ist es mir wichtig zu sagen: Es geht nicht darum, dass Emotionen schlecht sind.
Emotionen sind wichtig. Emotionen sind ein wichtiger Teil unseres Lebens. Und wir brauchen Emotionen, um mit der Welt in Kontakt zu treten und um zu verstehen, was in uns und um uns herum geschieht.
Wenn Emotionen zu Lasten werden
Doch es gibt Emotionen, die wir nicht verarbeiten konnten – und die dann zu Lasten werden.
Das sind vor allen Dingen Emotionen, die wir in der Vergangenheit als überwältigend erlebt haben und die wir deswegen nicht verarbeiten konnten. Sie stecken dann wie in unserem System fest und können immer wieder hochkommen. Sie können uns dann auch immer wieder in ähnliche Zustände oder Situationen bringen.
Ein Beispiel: Scham
Ein typisches Beispiel dafür wäre Scham.
Scham ist eine Emotion, die wir alle kennen und die auch wichtig ist. Denn Scham hilft uns zu verstehen:
- Wo sind die Grenzen von anderen Menschen?
- Was kann ich tun und was kann ich nicht tun?
- Wo muss ich mich vielleicht zurücknehmen?
Gesunde Scham ist also eine wichtige soziale Emotion.
Aber es gibt auch Scham, die so überwältigend ist, dass sie uns wie lähmt:
- Wir können gar nichts mehr tun
- Wir verstecken uns
- Wir isolieren uns
- Wir können uns gar nicht mehr zeigen
Das ist dann Scham, die zu einer Last geworden ist – und die uns nicht mehr hilft, sondern die uns behindert.
Weitere Emotionen, die zu Lasten werden können
Andere Emotionen, die zu Lasten werden können, sind:
- Angst – nicht die gesunde Vorsicht, sondern die lähmende, überwältigende Angst
- Wut – nicht die gesunde Grenze, sondern die unkontrollierbare Rage
- Trauer – nicht die heilende Trauer, sondern die endlose, hoffnungslose Verzweiflung
- Einsamkeit – das Gefühl fundamentaler Isolation
- Schuld – die quälende Überzeugung, etwas Unverzeihliches getan zu haben
- Ekel – auch gegen sich selbst gerichtet
All das sind Emotionen, die wir alle kennen und die wir alle brauchen – aber die eben auch zu Lasten werden können, wenn sie zu stark sind und wenn wir sie nicht verarbeiten konnten.
Somatische Aktivierung als Last
In diesem Zusammenhang ist es mir auch wichtig zu sagen, dass es nicht nur Emotionen gibt, die wir nicht verarbeiten konnten, sondern auch somatische Aktivierung.
Wenn das Nervensystem überfordert war
Das heißt: Wenn wir in der Vergangenheit Dinge erlebt haben, die unser Nervensystem überfordert haben, dann kann es sein, dass unser Nervensystem immer wieder in ähnlichen Situationen in die gleichen Muster zurückfällt.
Und dann haben wir gar nicht mehr so viel mit bewussten Emotionen zu tun, sondern unser Körper reagiert einfach. Wir erleben dann zum Beispiel:
- Erstarren (Freeze)
- Hyperarousal (übermäßige Erregung, Kampf oder Flucht)
- Hypoarousal (Herunterfahren, Zusammenbruch)
- Dissoziative Zustände
Diese körperlichen Reaktionsmuster können ebenfalls als Lasten verstanden werden – als nicht verarbeitete Aktivierung aus der Vergangenheit, die in Teilen steckengeblieben ist.
Wie Lasten in unser System kommen
Lasten entstehen typischerweise dann, wenn:
- Wir eine Erfahrung machen, die wir nicht verarbeiten können – weil wir zu jung waren, weil keine Unterstützung da war, weil es zu überwältigend war
- Diese Erfahrung zu Überzeugungen führt – Glaubenssätze, die uns damals geholfen haben, die Situation zu verstehen ("Ich bin schuld", "Ich bin nicht sicher")
- Emotionen festgehalten werden – weil sie zu intensiv waren, um sie zu fühlen und zu verarbeiten
- Ein Teil mit dieser Erfahrung "steckenbleibt" – dieser Teil trägt dann diese Last weiter
- Das System den Teil verbannt – um nicht ständig mit dieser Last konfrontiert zu sein
Die Funktion von Lasten verstehen
Ein zentraler Punkt im IFS: Lasten hatten und haben oft eine Funktion.
Ein Glaubenssatz wie "Ich bin nicht wichtig" mag schmerzhaft sein – aber vielleicht hat er einem Kind geholfen, sich in einer Familie zurückzunehmen, in der kein Platz für seine Bedürfnisse war. Der Glaubenssatz war eine Anpassung, eine Überlebensstrategie.
Eine Last von überwältigender Trauer festzuhalten mag problematisch erscheinen – aber vielleicht war es die einzige Möglichkeit, diese Emotion zu bewahren, wenn niemand da war, um sie mitzutragen.
Lasten sind keine Fehler. Sie sind Zeugnisse dessen, was war – und wie wir versucht haben, damit umzugehen.
Ausblick: Wie können wir Lasten loswerden?
Die gute Nachricht im IFS ist: Lasten können losgelassen werden.
Das geschieht nicht durch:
- Positives Denken
- Willenskraft
- Das Sagen von "Das ist nicht wahr"
Sondern durch einen Prozess, bei dem:
- Die Beschützer einverstanden sind, dass wir mit den Verbannten arbeiten
- Wir vom Selbst aus mit den Verbannten in Kontakt gehen
- Diese Teile gesehen und verstanden werden in dem, was sie durchgemacht haben
- Die Last bezeugt und gewürdigt wird
- Der Teil dann bereit ist, die Last loszulassen
Dieser Prozess – das sogenannte "Entlasten" oder "Unburdening" – ist ein zentraler Teil der IFS-Therapie, über den in späteren Videos mehr gesprochen werden wird.
Zusammenfassung
Lasten sind unverarbeitete Überreste aus der Vergangenheit, die Teile mit sich tragen. Sie bestehen hauptsächlich aus Glaubenssätzen und Emotionen (sowie somatischer Aktivierung).
Diese Lasten hatten oft eine Funktion – sie haben uns geholfen zu überleben, die Welt zu verstehen, mit dem Unerträglichen umzugehen. Sie sind keine Fehler, sondern Zeugnisse unserer Geschichte.
Heute können diese Lasten uns jedoch behindern und unser Leben einschränken. Die gute Nachricht: Im IFS-Ansatz können Lasten losgelassen werden – wenn die Teile bereit sind und wenn sie vom Selbst aus gesehen und verstanden werden.
Quellen
- Richard Schwartz: Internal Family Systems Therapy, Second Edition
- Jay Earley: Freedom from Your Inner Critic
- Jay Earley: Self-Therapy A Step-By-Step Guide to Creating Inner Wholeness Using Ifs, a New, Cutting-Edge Therapy
- Wikipedia:Internal Family Systems Model
- APA (Definition): Internal Family Systems Therapy