1.1: Das fundamentale Dilemma: Warum wir wirklich zwei Gehirnhälften brauchen

Wir alle kennen die gängigen Theorien über unsere beiden Gehirnhälften. Meist lautet das Modell: Die linke Hemisphäre ist rational, sprachlich und logisch, während die rechte als kreativ, emotional und oft ein wenig unzuverlässig gilt. Doch dieses Modell greift zu kurz. Tatsächlich brauchen wir beide Hemisphären für so gut wie alles, was wir in unserem Leben tun – sei es Logik, Kreativität oder Wissenschaft.

Wenn das aber so ist, stellt sich eine viel spannendere Frage: Warum haben wir dann überhaupt zwei getrennte Hälften und nicht einfach ein einziges, komplett verbundenes Gehirn?
Nicht WAS, sondern WIE
Der Forscher Iain McGilchrist hat sich genau dieser Frage gewidmet und eine tiefgreifende Antwort gefunden. Aus seiner Perspektive ist die Frage "Was tun die Hemisphären?" die falsche Frage. Es geht nicht darum, was die beiden Hirnhälften tun, sondern WIE sie es tun. Jede Hemisphäre ist an allen Tätigkeiten beteiligt, aber auf zuverlässig unterschiedliche Art und Weise. Um diesen Unterschied zu verstehen, hilft ein Blick in die Tierwelt.
Das Dilemma jedes Tieres
Ein Durchbruch für McGilchrist kam aus der Vogelforschung, denn sie macht ein Dilemma deutlich, das jedes Tier in jedem Moment bewältigen muss:
- Die Aufgabe, das zu kriegen, was ich will (z.B. Nahrung).
- Die Aufgabe, dabei nicht gefressen zu werden.
Um diese beiden Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen, braucht es zwei fundamental unterschiedliche Arten von Aufmerksamkeit.

1. Die fokussierte Aufmerksamkeit der linken Hemisphäre
Stell dir einen Vogel vor, der auf dem Boden nach Futter sucht. Um ein essbares Korn von einem ungenießbaren Steinchen zu unterscheiden, benötigt er eine Aufmerksamkeit, die fokussiert und zielgerichtet ist. Er muss präzise unterscheiden können: "Das ist das Korn, das ich will". Diese Art der Aufmerksamkeit ordnet McGilchrist der linken Hemisphäre zu. Vögel nutzen für solche Aufgaben vornehmlich ihr rechtes Auge, das von der linken Hemisphäre gesteuert wird.
2. Die weite Aufmerksamkeit der rechten Hemisphäre
Gleichzeitig, während der Vogel nach Körnern pickt, muss er eine zweite Art von Aufmerksamkeit aufrechterhalten. Eine, die wachtsam fragt: "Ist eine Katze in der Nähe? Verändert sich etwas?". Diese Aufmerksamkeit ist viel weiter und hält alles andere im Blick. Sie ist der rechten Hemisphäre zugeordnet und wird bei Vögeln über das linke Auge vermittelt.
Getrennt, um Ganz zu sein
Der Grund, warum wir zwei Hemisphären haben, ist also, dass wir diese beiden überlebenswichtigen Arten von Aufmerksamkeit zu allen Zeiten gleichzeitig aufrechterhalten müssen. Hätten wir nur ein einziges, ungeteiltes Gehirn, könnte eine dieser Aufmerksamkeiten die andere komplett übernehmen. Wären wir zu sehr auf die Körner fokussiert, würden wir die Katze übersehen. Wären wir zu ängstlich auf die Umgebung fixiert, würden wir verhungern.
Die Trennung ist also entscheidend. Der Corpus Callosum, die dicke Nervenverbindung zwischen den Hälften, hat primär eine trennende und hemmende Wirkung. Er erlaubt es einer Hirnhälfte, die andere zu unterdrücken, damit beide ihre einzigartige Funktion erfüllen können, ohne miteinander zu verschwimmen.
Und was für Vögel gilt, gilt auch für uns Menschen. Auch wir benötigen in jedem Moment die Fähigkeit, uns auf ein Detail zu konzentrieren und gleichzeitig das große Ganze im Blick zu behalten. Das ist die erste, fundamentale Antwort auf die Frage, warum unser Gehirn geteilt ist.
Quellen
- Iain McGilchrist: The Master and His Emissary
- Iain McGilchrist (Buch):The Matter With Things
- Schore: Affect Regulation and the Origin of the Self (APA) | Buch (1994)
- Schore/Schore: Modern Attachment Theory & Affect Regulation | Studie (2007)
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