4. Der einzige „Lernstil“, der wirklich zählt

4. Der einzige „Lernstil“, der wirklich zählt

Sechsundneunzig Prozent aller Lehrenden – und die meisten Kursentwickler – glauben an eine Theorie, die schlichtweg nicht stimmt.

Sie heißt Theorie der Lernstile.

Sie haben sicher davon gehört: Manche Menschen sind visuelle Lerner, andere auditive, wieder andere kinästhetische.
Die Idee klingt intuitiv. Sie wirkt respektvoll gegenüber individuellen Unterschieden. Und fast jeder hat sie irgendwann geglaubt.

Doch das Problem ist einfach: Sie funktioniert nicht.

Schlimmer noch – sie kann das Lehren und Lernen sogar weniger effektiv machen.

Warum Lernstile nicht funktionieren

Als Forschende begannen, die Theorie der Lernstile empirisch zu prüfen, stießen sie auf eine Wand.
Sie teilten Schüler in Gruppen ein – etwa in visuelle und auditive Lerner – und unterrichteten sie dann jeweils in der angeblich passenden Weise.

Das Ergebnis? Keine Verbesserung.

Ob der Unterricht „passend“ gestaltet war oder nicht, machte keinen messbaren Unterschied in den Lernergebnissen.

Mit anderen Worten: Die Vorstellung, dass visuelle Lerner durch Bilder besser lernen, ist ein Mythos – nicht nur unbelegt, sondern widerlegt.

Und trotzdem findet sich der Gedanke in nahezu jeder Lehrerausbildung, jedem Online-Kurs und jeder Lernberatung wieder.
Warum? Weil er sich richtig anfühlt.
Er klingt fürsorglich und individuell.
Doch er lenkt uns von dem ab, was tatsächlich zählt.

Das eigentliche Problem: Fehlgeleitete Energie

Wenn wir an etwas glauben, investieren wir Energie hinein.

Wir bauen unsere Lektionen, Materialien – manchmal sogar unsere Identität als Lehrende – darum herum auf.

Und wenn sich dieses Etwas als falsch erweist, haben wir all diese Energie – all diese Zeit – am falschen Ort eingesetzt.

Ich habe mit Kursentwicklern gesprochen, die Stunden damit verbringen, Folien zu überarbeiten, Skripte neu zu schreiben oder mehrere Varianten desselben Inhalts zu produzieren – nur um jeden vermeintlichen „Lernstil“ abzudecken.

Das ist eine tragische Verschwendung von Energie.

Denn das Problem ist nicht, dass Menschen unterschiedlich sind.
Das Problem ist, dass wir missverstehen, wie Lernen tatsächlich funktioniert.

Der einzige „Lernstil", der zählt: Adaptivität

Wenn Sie wirkungsvolle Lernprozesse gestalten wollen, vergessen Sie Lernstile.

Konzentrieren Sie sich auf den einen Faktor, der wirklich verändert, wie Menschen lernen: Den Grad ihrer Expertise.

Dieses Prinzip wird in der Forschung als Expertise-Reversal-Effekt bezeichnet.

Was Experten von Anfängern unterscheidet

Der fundamentale Unterschied zwischen Experten und Anfängern liegt nicht darin, wie sie Information bevorzugen – sondern wie viel strukturiertes Wissen sie bereits besitzen.

Experten haben über Jahre drei Arten von Wissen aufgebaut:

1. Deklaratives Wissen – Sie wissen, was Dinge sind, können Konzepte erkennen und benennen. Ein Schachmeister sieht „die Sizilianische Verteidigung", nicht nur einzelne Figuren.

2. Prozedurales Wissen – Sie können Handlungen ausführen und Fähigkeiten anwenden. Ein erfahrener Musiker spielt nicht mehr Noten ab, sondern musiziert.

3. Wahrnehmungskategorien – Sie erkennen Muster sofort. Was ein Anfänger als chaotische Informationsflut erlebt, strukturiert sich für den Experten automatisch in bedeutungsvolle Einheiten.

Warum das alles verändert

Experten können mit ungeordneter Information arbeiten, weil ihr bestehendes Wissen automatisch Struktur schafft. Sie sehen ein Problem und erkennen sofort das zugrundeliegende Muster, die relevanten Konzepte, die anzuwendenden Strategien.

Anfänger haben diese innere Struktur nicht. Wenn Sie ihnen ungeordnete Information präsentieren – sei es in Form von offenen Aufgaben, komplexen Fallstudien oder „entdeckendem Lernen" – müssen sie gleichzeitig versuchen:

  • Die Struktur des Problems zu verstehen
  • Relevante von irrelevanten Informationen zu trennen
  • Konzepte zu identifizieren
  • UND eine Lösung zu finden

Das erzeugt massive kognitive Überlastung. Ihr Arbeitsgedächtnis ist überfordert, und echtes Lernen wird unmöglich.

Die Lösung: Struktur als Hilfsmittel

Deshalb brauchen Anfänger explizite Struktur:

Worked Examples (gelöste Beispiele) zeigen Schritt für Schritt, wie ein Problem gelöst wird. Sie reduzieren die kognitive Belastung radikal, weil Lernende sich auf das Verstehen der Struktur konzentrieren können, statt gleichzeitig nach ihr suchen zu müssen.

Klare Kategorisierungen helfen, Wahrnehmungsmuster aufzubauen. „Das ist eine Wenn-Dann-Struktur" oder „Das ist ein Statusverlust" geben dem Gehirn Ankerpunkte, um Information zu organisieren.

Geführte Praxis ermöglicht es, Handlungen sicher auszuführen, bevor man sie selbständig anwenden muss.

Der Expertise-Reversal-Effekt

Doch hier kommt die entscheidende Wendung:

Was Anfängern hilft, kann Fortgeschrittenen schaden.
Und was Experten fordert, wird Anfänger überfordern.

Je weiter Lernende fortschreiten, desto mehr wird die externe Struktur zur Krücke. Worked Examples, die am Anfang befreiend waren, werden jetzt redundant – sie bremsen den Denkprozess, statt ihn zu unterstützen.

Die Anleitung muss ausgeblendet werden (fading), damit Lernende beginnen können, selbständig zu denken und zu handeln. Sie müssen lernen, ihre eigenen mentalen Strukturen zu aktivieren, statt sich auf externe zu verlassen.

Wenn sich der Unterricht nicht anpasst:

  • Langweilen sich Fortgeschrittene und steigen aus
  • Werden Anfänger überfordert und geben auf

Adaptive Gestaltung in der Praxis

Deshalb passen die besten Lernsysteme – von der Cognitive Tutor-Software bis zu großartigen menschlichen Lehrenden – kontinuierlich das Maß der Unterstützung an, basierend auf dem, was der Lernende bereits versteht.

Das ist der wahre Lernstil: Nicht visuell, auditiv oder kinästhetisch. Sondern adaptiv.

Gutes Lehren bedeutet nicht, statische „Präferenzen" zu bedienen. Es bedeutet, den Lernenden auf einer Reise zu begleiten:

  • Von vollständiger Anleitung zur Unabhängigkeit
  • Von extern bereitgestellter Struktur zu intern aufgebauten Schemata
  • Von gelösten Beispielen zu eigenständigem Problemlösen

Die Frage ist nicht: „Ist dieser Mensch ein visueller Lerner?"

Die Frage ist: „Wie viel Wissen hat dieser Mensch bereits – und wie viel Struktur braucht er deshalb noch von mir?"

Aktionsplan für Wissensarchitekten

Ihre Energie sollte nicht darauf verwendet werden, mythischen „Stilen“ hinterherzulaufen.
Sondern darauf, optimale Bedingungen für den Aufbau von Wissen und Können zu schaffen.

  1. Hören Sie auf, für Stile zu entwerfen.
    Entwerfen Sie für Progression. Beginnen Sie mit klarer Struktur – und blenden Sie sie aus, sobald die Kompetenz wächst.
  2. Bauen Sie adaptive Momente ein.
    Stellen Sie Fragen, um den tatsächlichen Wissensstand zu erkennen, und passen Sie Ihre Anleitung entsprechend an.
  3. Fokussieren Sie auf kognitive Belastung.
    Vereinfachen Sie Aufgaben für Anfänger, um Überforderung zu vermeiden. Erhöhen Sie den Schwierigkeitsgrad erst, wenn Sicherheit da ist – um den Abruf zu trainieren und Schemata zu festigen.
  4. Entwerfen Sie für Feedback.
    Lernen hängt nicht davon ab, wie Informationen präsentiert werden, sondern davon, wie gut der Lernende sie verarbeiten und anwenden kann.
    Geben Sie präzises, unmittelbares Feedback zur Anwendung des Wissens.

Abschließende Gedanken

Wenn 96 Prozent der Lehrenden noch immer an Lernstile glauben, sagt das weniger über die Theorie – und mehr über uns aus.

Wir lieben klare Modelle, die menschlich klingen.
Aber Lehren bedeutet nicht, Präferenzen zu bedienen.
Es bedeutet, Bedingungen zu schaffen, unter denen Verständnis wachsen kann.

Wenn Sie also das nächste Mal eine Lektion planen, vergessen Sie „visuell vs. auditiv“.

Fragen Sie stattdessen:

„Wo befindet sich mein Lernender auf dem Weg vom Beispiel zur Unabhängigkeit?“

Das ist der einzige Lernstil, der wirklich zählt.