3.3: Das "Als ob"-Gefühl: Wie frühe Erfahrungen unser implizites Weltbild formen
Die wiederholten Bindungserfahrungen der ersten zwei Lebensjahre, dieser nonverbale Tanz der Gehirne, hinterlassen tiefe Spuren. Doch diese Spuren manifestieren sich nicht als bewusste Glaubenssätze oder explizite Erinnerungen. Stattdessen formen sie ein implizites "Als ob"-Gefühl – eine tief im Körper verankerte Grundhaltung, die bestimmt, wie wir uns in der Welt verhalten, lange bevor wir darüber nachdenken.
Die stabile Basis: Leben, "als ob" die Welt sicher ist
Wenn die Bindung zwischen Eltern und Kind gut läuft und der Tanz der Synchronisation oft genug stattfindet, entwickelt sich eine stabile Basis. Das Kind lernt nicht den bewussten Satz "Die Welt ist gut", sondern es lernt, sich so zu verhalten, als ob die Welt gut und sicher wäre.

- Im Kontakt wendet es sich neugierig zu, weil es gelernt hat, sich so zu verhalten, als ob Kontakt sicher und nährend wäre.
- Im Stress lernt es, sich selbst zu beruhigen, weil es Millionen Mal die Erfahrung gemacht hat, beruhigt zu werden. Es verhält sich so, als ob Stress okay ist und vorübergeht.
- Im Streit lernt es, dass die Verbindung danach wiederhergestellt werden kann. Es verhält sich so, als ob die Beziehung wertvoll und belastbar ist.
Diese "Als ob"-Haltungen sind die tiefste Grundlage für Resilienz und Beziehungsfähigkeit. Sie sitzen viel tiefer als jeder Gedanke und setzen sich bis ins Erwachsenenalter fort.

Die instabile Basis: Leben, "als ob" die Welt unsicher ist
Was geschieht jedoch, wenn diese frühe Synchronisation fehlt? Das Gehirn passt sich trotzdem an die Welt an, in der es lebt. Fehlt die sichere Bindung, wird eine instabile Basis gelegt. Das Kind lernt implizit, sich so zu verhalten, als ob die Welt unsicher und gefährlich wäre.
- Im Kontakt wendet es sich vielleicht ab oder muss die Verbindung ständig überprüfen, weil es gelernt hat, sich so zu verhalten, als ob Beziehungen unsicher sind.
- Im Stress hat es vielleicht nicht gelernt, sich zu beruhigen. Stattdessen steigert es sich hinein oder spaltet sich von den Gefühlen ab (dissoziiert), weil das die einzige Überlebensstrategie war.
- Im Streit erlebt es vielleicht eine existenzielle Bedrohung, weil es nicht die Erfahrung gemacht hat, dass die Verbindung danach wieder sicher ist.
Dieses Gefühl, sich ständig so verhalten zu müssen, als ob die Welt unsicher ist, ist ein anderes Wort für Trauma. Es ist kein vergangenes Ereignis, sondern eine unorganisierte, implizite Erfahrung, die im Nervensystem weiterlebt. Das Trauma ist oft abgespalten von der körperlichen Erfahrung und dem bewussten Verstehen, weshalb viele Betroffene vergeblich versuchen, es allein durch kognitive Einsicht zu lösen.
Unser grundlegendes Gefühl von Sicherheit oder Unsicherheit in der Welt ist also kein Gedanke, den wir uns aussuchen, sondern eine im Körper verankerte Haltung, die in den ersten zwei Lebensjahren durch die Qualität unserer Bindungsbeziehungen geformt wird.
Quellen
- Iain McGilchrist: The Master and His Emissary
- Iain McGilchrist (Buch):The Matter With Things
- Schore: Affect Regulation and the Origin of the Self (APA) | Buch (1994)
- Schore/Schore: Modern Attachment Theory & Affect Regulation | Studie (2007)
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Glossar